Manfred Gilgien wurde am 05. November 1948 in Winterthur geboren.
1957 zog die Familie nach Arlesheim. Kaufmännische Lehre bei der Basler Kantonalbank. Abendmatur. Besuch der Universität Basel. Abgebrochenes Studium der Literatur und Philosophie. Er lebte in Arlesheim und in Basel.
Am 09. November 1993 starb er in seiner Wohnung in Basel/Kleinhüningen. Er wurde am 16. November 1993 auf dem Friedhof Arlesheim beigesetzt.
Seine einzige Buchpublikation «Strassen-Tango» erschien 1978 im Verlag Nachtmaschine Basel, herausgegeben von Hansjörg Schneider, der es auch mit einem ausführlichen Vorwort versehen hat, welches eine lohnende Lektüre ist und daher hier in voller Länge erscheint (Quelle: Onlinereports).
«Leute in Basel, die Manfred Gilgien gekannt und gern gehabt haben, könnten stundenlang erzählen von diesem Edel-Clochard. Von seinem verschlissenen Asphalt-Adel, seiner Neugier und aufblitzenden
Liebessehnsucht, seiner Arroganz und hilflosen Aggressivität. Er war ein Poète maudit, wie er im Büchlein steht.
1948 geboren, die ersten neun Jahre in Winterthur aufgewachsen, dann im Basler Vorort Arlesheim, in einem schmucken Reihenhaus. Mutter Auslandschweizerin aus Schlesien, Vater aus Fribourg,
Zugführer bei der SBB. Manfred Gilgien machte eine kaufmännische Lehre bei der Basler Kantonalbank, zweitbeste Abschlussprüfung seines Jahrgangs. Anschliessend zwei Jahre Arbeit in der Bank,
nebenher die Abendmatur. Dann Besuch der Universität.
1968, während der Studentenrevolte, war er als Zwanzigjähriger im genau richtigen Alter. Damals kamen Dürrenmatt und Düggelin ans Basler Theater und liessen die Stadt aufleuchten. Es war eine
gute Zeit, und Manfred beschloss, fortan kein Geld mehr mit Lohnarbeit zu verdienen, sondern als Schriftsteller zu leben. Die Ablehnung jeder kleinbürgerlichen Ordnung schien ihm derart tief
eingeboren zu sein, dass er sich nicht eingliedern liess. Er war nicht brauchbar, ganz und gar unverwertbar. Asozial war er indessen nicht. Er hat Gesellschaft gesucht in den Rand- und Grauzonen,
in Kneipen, in Künstlerkreisen. Er hatte prominente Bewunderer, Dieter Roth, Jürg Federspiel, Rainer Brambach, Werner Lutz und Hans Werthmüller. Eine Zeitlang war er liiert mit der Schauspielerin
Rosel Schäfer.
Er hat sich schon in jungen Jahren dem Bier und dem Wein hingegeben, wurde bevormundet, bezog Invalidenrente. Dieses Geld hat ihm nicht gereicht. Er wollte nicht zuhause am Küchentisch
verkümmern, er wollte in der Oeffentlichkeit auf den Putz hauen. So wurde er zum Bettler. Er war der genialste Schnorrer ganz Basels. Er hat geschnorrt, ohne sich anzubiedern. Er war gescheit,
sensibel und nie langweilig. Und er hat Zeichen gesetzt.Einmal, als ich ihn um Mitternacht heim nahm, waren vor dem Mietshaus, in dem ich mit meiner Familie wohnte, alte Möbel aufgestapelt,
Wohnwand, Kanapee, der ganze Kleinbürgerkram, bereit zur Sperrgutabfuhr. Wir setzten uns in die Küche und tranken eine Flasche Wein. Dann komplimentierte ich ihn hinaus. Er protestierte, aber er
hatte zu grossen Respekt vor den schlafenden Kindern, er wurde nicht laut. Kurze Zeit später hörte ich es draussen auf dem Trottoir krachen. Ich ging nachschauen und sah Manfred auf einer alten
Matratze liegen, inmitten der alten Möbel. Vermutlich hat er dort geschlafen, bis es ihm zu kalt wurde.
Einmal traf ich ihn in der Augenklinik, ein Freund hatte mich angerufen und informiert. Ich ging hin und redete mit einem Arzt, der erklärte, Manfred habe eine schwere Augeninfektion, er würde
ein Auge verlieren, wenn er nicht dableiben und sich sogleich behandeln lassen würde.
Es war nichts zu machen, Manfred hat die Klinik verlassen. Es ist mir noch heute unbegreiflich, warum wir ihn nicht überzeugen konnten. Sein Eigensinn war so unantastbar, dass wir ihn gehen
liessen.
Er hat sich erst am andern Tag in Behandlung begeben. Aber da war es zu spät. Er hat ein Auge verloren.
Er hat sich ins Kleinbasel zurückgezogen, wo er eine Sozialwohnung hatte. In Grossbasel ist er nur noch selten aufgetaucht, wohl auch deshalb, weil er in einigen der einschlägigen Kneipen
Wirtschaftsverbot hatte. Die Ausnahme war die Kunsthalle, wo er nach wie vor freundlich bedient wurde.
Ab und zu habe ich ihn drüben im Kleinbasel besucht, im Swiss Chalet an der Rheingasse. Er war immer dort, wenn ich kam. Es war deutlich zu sehen, dass er in dieser Kneipe ein geachteter Gast
war. Er hat sich jeweils zu mir gesetzt, wir haben Rotwein getrunken und über vergangene Zeiten geredet.
Im Sommer 1993 hat er mir auf dem Telefonbeantworter mitgeteilt, er möchte mich wieder einmal sehen. Da er kein Telefon hatte, habe ich ihm geschrieben. Ich habe dann nichts mehr gehört von ihm,
bis ich vernahm, er sei in seiner Kleinhüninger Wohnung, behütet von seiner Mutter, an Krebs gestorben.
Seine Asche wurde am 16. November 1993 auf dem Friedhof Arlesheim beigesetzt. Matthyas Jenny, der sein Vormund war, und ich waren anwesend. In der Abdankungshalle sassen nur wenige Leute, alte
Frauen vor allem, seine Mutter, auch seine Schwester und sein Bruder. Der Pfarrer hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Offenbar wurde hier eine gescheiterte Existenz begraben, ein Aergernis
selbst noch im Tode.
* * *
Dieses kurze Leben wäre wohl nicht der öffentlichen Rede wert, wenn Manfred Gilgien nicht ein grosser Lyriker gewesen wäre. Wenn ich eine Anthologie der Deutschschweizer Lyrik aus dem 20.
Jahrhundert zusammen stellen würde, hätte er einen Ehrenplatz darin, zusammen mit Rainer Brambach, Alexander Xaver Gwerder, Hans Morgenthaler und Robert Walser. Er hat zwar nur kurze Zeit
geschrieben, und in dieser kurzen Zeit hat er wenig geschrieben. Dann war es aus, es ist ihm nichts mehr eingefallen. Alle Bestechungsversuche halfen nichts. Er ist zwar noch ein paarmal
dahergekommen mit guten Gedichten, um die versprochenen fünfzig Franken abzuholen. Aber beim dritten Mal hat man gemerkt, dass er sie bei Brecht abgeschrieben hatte.
1978 hat Matthyas Jenny in seinem Verlag Nachtmaschine ein Bändchen mit dem Titel Strassen-Tango herausgegeben, das Manfred Gilgiens kurze Prosatexte und die Gedichte enthält. Ein
zauberhaftes Buch schon damals, ein zauberhaftes Buch noch heute. Es stehen Gedichte darin, die nicht alt zu werden scheinen. Im Gegenteil, sie leuchten noch heller als vor 24 Jahren.
Die Prosatexte erzählen von einem jungen Mann, der sich um 1970 in Basel auf die Suche nach Neuem macht. Zum Teil mögen sie bloss lokal interessieren. Aber es gibt auch weit ausgreifende
Geschichten wie die "Episode im Zug".
Bei einigen Gedichten sind Gilgiens Vorbilder klar erkennbar: Brecht, Trakl, die Beatniks. Es geht dann sehr schnell, bis er seinen eigenen Ton findet. Am schönsten gelingt ihm das mit seinen
Liebesgedichten.
Man kann Gilgien ohne weiteres mit Alexander Xaver Gwerder (1923 - 52) vergleichen. Auch Gwerder hat kurze Prosatexte geschrieben. Auch sein Vorbild ist klar erkennbar. Er hat Gottfried Benns Ton
erst nach Jahren überwinden können. Erst in seiner letzten Zeit sind ihm seine ergreifenden Liebesgedichte gelungen, bis er mit 29 Jahren in Arles aus dem Leben geschieden ist. Beide waren sie
junge Wilde, ohne jede Rücksicht auf die eigene Zukunft, rücksichtslos auch dem Literaturbetrieb gegenüber, hell brennend und bald erloschen.
Ein Vergleich der beiden zeigt aber auch, was sich in den 25 Jahren, die zwischen ihnen liegen, verändert hat. Gwerder vermochte es noch, einige Gedichte von klassischer Form und Vollendung zu
schreiben. Sein Grundthema war immer noch das Leiden an der Welt, die Melancholie. Das schafft Gilgien nicht mehr. Seine Verse sind wie Graffiti in den Beton gekratzt. Hastige Momentaufnahmen, in
einer kurzen Anstrengung dem zerstörerischen Laufe der Zeit entgegengesetzt. Manchmal reimt er, wenn es gerade passt. Dann wieder lässt er einen Vers reimlos hängen, das ist ihm egal. Nie würde
er einen Vers, den er so und nicht anders aufschreiben will, des Reimes wegen ändern. Vollendung der Form, das Kunstvolle, ist nicht sein Ziel, er glaubt nicht an Vollendung. Er glaubt an den
Augenblick, den er lyrisch festhält. So gelingen ihm vollendete Gedichte.
Zwei Spangen fand ich
Auf dem roten Teppich
Sie sind von dir
Zärtlich gleiten von
Hand zu Hand sie mir
Und flüstern:
Geh bring sie ihr!
* * *
Man kann, wenn man will, die Deutschschweizer Lyrik des 20. Jahrhunderts in zwei Gruppen einteilen. Zur einen Gruppe gehören die Traditionalisten, die an ihren Gedichten bosselten und feilten,
bis sie einigermassen dem klassischen Ideal entsprachen, das Professor Emil Staiger propagierte. Es waren gute Leute wie Albin Zollinger darunter, die für ihre Autoritätsgläubigkeit indessen
einen hohen Preis bezahlen mussten. Ihre Literatur ist gestorben.
Es gab auch einige Feuilletonredaktoren darunter, die uns nicht nur vordichteten, was sie für richtig fanden, sondern die uns in ihren öffentlichen Lyrikspalten auch noch mit Kitsch über irgend
welchen totgesagten Park zu langweilen beliebten. Sie mögen in Frieden ruhen.
Zur anderen Gruppe gehören die Abseitigen, die aus der ordentlichen Gesellschaft Herausgefallenen. Man müsste einmal die Geschichte der Deutschschweizer Dichtung des 20. Jahrhunderts unter dem
Aspekt der psychiatrischen Anstalt schreiben. In diesem Buch würden unsere besten Dichter vorkommen. Auch Manfred Gilgien war eine Zeitlang im Baselbieter Hasenbühl interniert.
Die Irrenanstalt als Ort der Poesie, das ist helvetische Wirklichkeit.
Diese zweite Gruppe kommt seltsam knorrig daher wie Morgenthaler, der tut, als könne er gar nicht richtig Deutsch. Sie dreht eine Pirouette zuviel und streift haarscharf am Kitsch vorbei wie
Walser. Sie versteigt sich zur sentimentalen Todessehnsucht wie Gwerder, der eine Frau zum Sterben suchte und beinahe fand. Sie bewegt sich erdklumpig nahe am Boden wie Brambach, als könnte sie
nicht richtig gehen. Sie missachtet provokativ alle Regeln der Kunst wie Gilgien.
In jedem Fall verweigert sich diese Gruppe erst einmal. Sie verweigert sich nicht, weil sie nicht korrekt einen Sonnenuntergang bedichten könnte. Sie verweigert sich, weil sie nicht korrekt
dichten will. Sie misstraut jeder Korrektheit, weil sie weiss, dass Korrektheit ins Leblose führt.
Jedem gelungenen Vers liegt eine Frechheit zu Grunde, die Hybris nämlich, die alltägliche Sprache adeln zu wollen. Davor schrecken diese Poeten zurück, obschon sie es ja eigentlich möchten und
könnten. Sie sind von altem Sprachadel, sie vermögen es, die Wörter zu Gedichten zu schlagen. Ein uraltes Gewerbe ist dies, das Gold schürfen kann, wo eigentlich nur Blech herumliegt. Ein
heimliches Gewerbe in heutiger Zeit, das sich vor Falschmünzerei schützen muss. Deshalb zieht sich die Poesie in abseitige Verstecke zurück.
Es ist unmöglich zu definieren, was ein gutes Gedicht ist. Man merkt es beim Lesen, oder man merkt es nicht. Eine Bedingung jedoch muss ein gutes Gedicht erfüllen. Es muss eine Erfindung sein.
Abkupfern gilt nicht. Die alte Form muss neu erfunden und neu hergestellt sein.
Manfred Gilgien ist ein lyrischer Erfinder. Er hat seine Gedichte neu erfunden. Er hat jedes Wort bezahlt.
* * *
Matthyas Jenny hat 1978 vom Strassen-Tango eine zweite Auflage gemacht. Auch sie ist inzwischen vergriffen. Manfred Gilgien hat vom Basler Literaturkredit dafür Geld bekommen. Das ehrt die Stadt
Basel. Die Literaturzeitschrift orte hat 1997 über Gilgien berichtet. Gerwig Epkes vom Südwestfunk Baden-Baden hat im Jahre 2000 ein halbstündiges Feature über ihn gesendet. Erfolglos war der
Strassen-Tango also nicht.
Trotzdem kennt fast niemand diesen Dichter. In Basel erinnert man sich zwar noch an einen einäugigen Landstreicher, aber man erinnert sich nicht gern an ihn. Er hat nicht gut in diese saubere
Stadt gepasst, es will sich niemand an ihm die Hände schmutzig machen. Und überhaupt, wer interessiert sich denn heute noch für Lyrik, ausser in der Reklame vielleicht?
Zürich, wo das Fernsehen, die grossen Verlage und die grossen Zeitungen und Zeitschriften ihren Sitz haben, ist Lichtjahre von Basel entfernt. In Zürich interessiert sich niemand für das, was in
Basel geschrieben wird. Die gute Schweizer Literatur kommt aus Zürich, basta. Folglich wurde Manfred Gilgien schlicht übersehen.
Das ist schade. Ich finde, wir sollten auf einen so wunderbaren Dichter nicht verzichten.»
Hansjörg Schneider, 4. Mai 2005
* Anlässlich der Lesung und Buchvernissage am 8. April 2005 in Basel. Mit Doris Wolters und Klaus Brömmelmeier. Die Lesung wurde vom SWR2 Baden-Baden aufgezeichnet.
Manfred Gilgien: Strassen-Tango, Gedichte und Prosa. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Hansjörg Schneider, Klappenbroschur, mit fünf Fotos von Ester Pfirter, Basel, und einem
Foto von Josef Riegger, Basel. 160 Seiten. 29.80 Franken / 20 Euro.
Gedichtplakat und Poesiekarte, Tag der Poesie 2012:
"Poesie ist etwas was danebensteht"
Gedichtplakat und Poesiekarte, Tag der Poesie 2013: "Das Ich im unendlichen Raum"
Gedichtplakat und Poesiekarte, Tag der Poesie 2014: "Wie süss klänge es mir jetzt"
Gedichtplakat, Tag der Poesie 2016: "Ich beginne zu sprechen vom Tod", "Tieraugen"
Gedenkweg Basler DichterInnen, Tag der Poesie 2016